In der Primarschule war ich unauffällig – ich versuchte es zumindest. Ein Klassen-Clown war ich nie, auch wenn man mir das heute nicht glauben will. Ich wog damals soviel wie vier Schulkinder zusammen und hatte einen gewissen Wiedererkennungswert. Verstecken konnte ich mich so natürlich unmöglich. Unser Lehrer war ehemaliger Turner – Sport war ihm wichtig – und auch im Militär war er irgendetwas wichtiges. Militär und Sport. Eine hochexplosive Mischung, die den Unterricht mit Disziplin und Sport „verseuchte“. Wir hatten unglaublich harte Turnstunden und lernten einen militärischen Gehorsam. Meinen Militärdienst, viele Jahre später, empfand ich deswegen als total locker, entspannt und sowas von unangestrengt, dass mich einige der Militärkollegen noch bis heute hassen. Aber zurück zu unserem Primarlehrer.
Kam er am morgen ins Schulzimmer, mussten wir neben unsere Pulte stehen, unisono „Guten Morgen Herr X“ brüllen (ich nenne hier seinen Namen mit Absicht nicht – Datenschutz) und sogleich ein sauberes, gebügeltes und ordentlich zusammengefaltetes Stoff-Taschentuch vorzeigen. Wer den Morgengruss nicht aus den Tiefen seiner Bronchien, an den Stimmbändern vorbei ins aerosolgeschwängerte Schulzimmer brüllte, hatte vermutlich etwas zu verbergen, oder kein sauberes Taschentuch dabei. Er ging durch die Reihen und prüfte unsere Taschentücher auf Reinheit, Sauberkeit und Bügelfalten. Wagte es jemand, mit einem benutzten Tuch in die Schule zu kommen, wurde er dazu verdonnert in der Pause nach Hause zu rennen, um ein frisches Tuch zu besorgen. Ich hatte vorgesorgt. In jedem Hosensack wartete ein perfektes Taschentuch auf seinen Einsatz. Hätte ich aus Versehen mal eines benutzt, so waren noch drei Frische verfügbar. Ich musste nie nach Hause rennen. Es galt, jegliche Bewegung zu unterbinden und das Verpassen der grossen Pause wäre fatal gewesen. Kein „Schoggi-Drink“ und kein „Schwööbli“. Der dritte Weltkrieg hätte mir damals weniger Angst bereitet als keine Pause zu haben. Das morgendliche Antrittsverlesen konnte ich so gelassen angehen. Bei seinem prüfenden Gang durch die Klasse, umkreisten seine Adleraugen unsere Taschentücher wie ein Milan in luftiger Höhe die Mäuse auf dem Feld. Er besass gute Augen, aber auch eine empfindliche Nase. Hatte jemand die Morgendusche übersehen, wie eine unmotivierte Verkäuferin im Kleiderladen die hilfesuchende Kundschaft, dann musste der-oder diejenige sich auf etwas gefasst machen. Solche „Schmutzfinke“ packte er grob am Kragen und zerrte sie nach vorne ans Waschbecken. Dort rieb er die Gesichter mit Wasser und Seife ein, gefolgt von einem gutgemeinten Rat: „Hygiene ist wichtig!“ (auch ohne Pandemie wusste er dies damals schon). Danach spülte er, den nun teilsauberen den ganzen Kopf mit kaltem Wasser kräftig ab und schickte sie wieder auf deren Platz zurück. Dort tropften diese dann das ganze Pult voll. Tränen und Kaltwasser. Nicht selten benutzten sie dann ihr sauberes Taschentuch um die Wasserlachen zu beseitigen. Folgte erst dann die Tuch-Kontrolle, wusste man, wer in der grossen Pause fehlte.
Er hatte eine klare Linie, unser Lehrer. Er hatte Prinzipien und die Mittel, diese durchzusetzen. Er hatte damals auch noch etwas wichtiges hinter sich: die Allgemeinheit und unsere Eltern. Allgemein galt es damals nicht als „Gewalt“, wenn man als erwachsene Respektsperson und Aufsichtsberechtigter einem Kind, oder einem Schüler einen Klaps auf den Po oder eine Ohrfeige verpasste. Das war damals eine „Erziehungsmassnahme“ oder eine „Kommunikationsform“. Darum war es auch aussichtslos, sich zu Hause über den Lehrer zu beschweren. Wenn ich erzählte, dass er mir beim Rechnen seinen Schlüsselbund mit Wucht an den Hinterkopf geschleudert hatte, dann sagten meine Eltern lediglich: „Er wird wohl seine Gründe gehabt haben!“ Mit dem Recht auf seiner Seite konnte er den Unterricht so gestalten wie er wollte und wäre in der heutigen Zeit vermutlich Gefängnisaufseher auf Guantanamo.
Als ehemaliger Turner war ihm Sport sehr wichtig. Bei mir war das total anders. Sport war Folter. Vor allem das, was er unter Sport verstand. Ringe, Barren, Sprossenwand. Das klingt bei mir heute noch wie: Schmerzen, Platzwunden und Muskelriss. Nie machten wir Ballspiele. Immer mussten wir irgendwelche Parcours überwinden. Mit Vorliebe baute er riesige Hindernisse auf, die wir dann bezwingen mussten. Vom Trampolin an die Ringe, da ein paar Schwünge mit Abgang, danach über eine Sprossenwand, dann über einen hohen Bock, dazwischen noch etwas Schwebebalken oder Reck und am Schluss immer noch das: unter einer Sitzbank durch robben. Obschon auch die Übungen davor für mich sowas waren, wie das Erklimmen des Mount Everest in Baströckchen und Flip-Flops, war das Unterqueren der Sitzbank die Horror-Übung. Mit meinem Bauch passte ich nie unter dieser Bank durch. Obwohl er dies wusste, war immer diese Bank das letzte Hindernis. Bevor der „Ninja Warrior Parcour“ begann, mussten wir zwei Gruppen bilden. Diese Gruppen würden nachher gegeneinander antreten und den Parcour absolvieren müssen. Die Gruppe die gewann, würde etwas geschenkt bekommen. Super! Klar wollte mich nie jemand in seiner Gruppe, war ich doch der Garant dafür, sicherlich nichts zu gewinnen. Doch bevor das Trauerspiel begann, machte unser Lehrer diesen Parcour einmal vor. Damit wollte er uns zwei Dinge zeigen. Erstens, wie wir die Hindernisse zu überwinden hatten und zweitens: DASS ER ES KANN. UND WIE! Er trug immer eines seiner ehemaligen Turner-Outfits, diese eng anliegenden Turner-Overalls in rot mit dem Schweizer-Kreuz und den weissen Turn-Schläppchen. Er sah aus, als stünde er in der Schlussrunde der Olympischen-Spiele vor der Entscheidung zur Goldmedaille und so legte er sich auch ins Zeug. Er schwang sich grazil und mit Wucht an die Ringe, übersprang Hindernisse als wären sie gar nicht da und zum Schluss unterquerte er diese höllische Sitzbank, in dem er einfach unter ihr durchschlitterte. Es sah alles so leicht aus bei ihm. Dann waren wir an der Reihe. Einige in meiner Klasse eiferten unserem Lehrer nach und nicht mal schlecht. Dann war ich an der Reihe. Klar ist man nicht unbedingt motiviert, wenn man schon zu Beginn einer „Prüfung“ weiss, dass man bereits beim Schuhebinden an seine Grenzen kommt. Irgendwann steckte ich – wie immer – unter dieser Bank fest. Unter dem üblichen Gelächter der Klasse mussten mich vier Mitschüler befreien. Zwei standen auf der Bank und zwei zerrten mich unter ihr hervor. Diese Bilder prägten sich bei mir ein. Das alles ist in meinem Kopf noch heute so präsent, dass wenn ich „Sport“ höre ich mich automatisch unter dieser Bank eingeklemmt sehe. Turnunterricht bei meinem Lehrer war damals eine, von allen Seiten geduldete Demütigung. Sicherlich meinte er es total gut. Er war ja auch ein extrem angenehmer Typ. Er war streng, aber auch zugleich auch lieb. Sicherlich verstand er seine Art als Motivation und Erziehungshilfe. Und tatsächlich motivierte mich diese Sitzbank im Turnunterricht, in anderen Fächern nicht stecken zu bleiben.
Einmal sagte er, wir sollen ein Gedicht auswendig lernen. Es war Montag und am Mittwoch soll jeder eines vortragen. Das war meine Chance. Auch wenn ich im Turnen an jeder Hürde scheiterte, gab es „Disziplinen“ wo Scheitern keine Option für mich war. Ich würde es allen zeigen. All jenen, die immer so hämisch grinsten und lachten, wenn ich unter dieser Bank steckte. Nun würde ich der sein, der alle anderen auslachte. Dann war Mittwoch. Meine Mitschülerinnen und Mitschüler trugen ihre ausgesuchten Gedichte vor. Mal ein Achtzeiler dann vielleicht mal ein Vierzeiler und oft sogar nur ein Zweizeiler. Lächerlich! Dann sagte mein Lehrer: „Renato, jetzt bis du dran!“ Das sagte er auch immer so, wenn ich den Parcour beginnen musste. Das gab mir noch mehr Selbstvertrauen. Ich erhebte mich vom Pult und ging nach vorne zur Wandtafel. In einem Hollywood-Film würde diese Szene in Zeitlupe gezeigt und mit einer heldenhaften Hymne unterlegt werden. Da stand ich nun und legte los. In den letzten zwei Tagen hatte ich stundenlang auswendig gelernt. Das war auch nötig, denn das von mir vorgetragene Gedich von Erich Kästner (unten angefügt) bestand aus 14 Vierzeilern. Da stand der Dicke nun und rezitierte. Die anderen in der Klasse trugen lächerliche Kleinstreime vor. Dabei machten sie sogar noch Fehler, oder wussten nicht mehr weiter. Ich hingegen trug das lange Kästner-Gedicht vor, als wäre es nichts. Ohne Fehler. Ohne Spickzettel und ohne STECKEN ZU BLEIBEN.
Oft denke ich an meinen Lehrer zurück. Er lebt noch immer. Hochbetagt und immer noch topfit. Das verdank er sicherlich seiner Turnervergangenheit und dass er sich das ganze Leben mit der „Jugend“ beschäftigte. Und ich verdanke ihm meinen, schon fast selbstzerstörerischen Willen, jedes Hindernis in meinem Leben zu überqueren oder unten durch zu flutschen. Das Gedicht von Erich Kästner – Die Sache mit den Klössen – kann ich nicht mehr auswendig… MOMENT…morgen kann ich es wieder!
Zum Mitmachen und Lernen:
DIE SACHE MIT DEN KLÖSSEN von Erich Kästner
Der Peter war ein Renommist.
Ihr wißt vielleicht nicht, was das ist.
Ein Renommist, das ist ein Mann,
der viel verspricht und wenig kann.
Wer fragte: „Wie weit springst du, Peter?“
bekam zur Antwort: „Sieben Meter.“
In Wirklichkeit – Kurt hat´s gesehn –
sprang Peter bloß drei Meter zehn.
So war es immer: Peter log,
daß sich der stärkste Balken bog.
Und was das Schlimmste daran war:
Er glaubte seine Lügen gar!
Als man einmal vom Essen sprach,
da dachte Peter lange nach.
Dann sagte er mit stiller Größe:
„Ich esse manchmal dreißig Klöße.“
Die anderen Kinder lachten sehr,
doch Peter sprach: „Wenn nicht noch mehr!“
„Nun gut,“ rief Kurt, „wir wollen wetten!“
(Wenn sie das bloß gelassen hätten.)
Der Preis bestand, besprachen sie,
in einer Taschenbatterie.
Die Köchin von Kurts Eltern kochte
die Klöße, wenn sie´s auch nicht mochte.
Kurts Eltern waren ausgegangen.
So wurde endlich angefangen,
Vom ersten bis zum fünften Kloß,
da war noch nichts Besondres los.
Die anderen Kinder saßen stumm
um Peter und die Klöße rum.
Beim siebenten und achten Stück
bemerkte Kurt: „Er wird schon dick.“
Beim zehnten Kloß ward Peter weiß
und dachte: Kurt erhält den Preis.
Ihm war ganz schlecht, doch tat er heiter
und aß, als ob´s ihm schmeckte, weiter.
Er schob die Klöße in den Mund
und wurde langsam kugelrund.
Der Anzug wurde langsam knapp.
Die Knöpfe sprangen alle ab.
Die Augen quollen aus dem Kopf.
Doch griff er tapfer in den Topf.
Nach fünfzehn Klößen endlich sank
er stöhnend von der Küchenbank.
Die Köchin Hildegard erschrak,
als er so still am Boden lag.
Dann fing er gräßlich an zu husten,
daß sie den Doktor holen mußten.
„Um Gottes willen“, rief er aus,
„der Junge muß ins Krankenhaus.“
Vier Klöße steckten noch im Schlund.
Das war natürlich ungesund.
Mit Schmerzen und für teueres Geld
ward Peter wiederhergestellt.
Das Renommieren hat zu Zeiten
auch seine großen Schattenseiten.
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