Überschreckt

Als ich vor vielen Jahren meinen ersten Nothelferkurs absolvierte gehörte eine Dia-Show zum Kurs. Man musste sich Bilder von realen Unfällen anschauen. Die Kursleiter begannen die „Show“ mit den Worten: „Das kann geschehen, wenn man nicht aufpasst“. Was dann folgte, waren schreckliche Szenen, die wie Screenshots aus billigen Horrorfilmen wirkten. Aber sie waren echt. Die aufgeschlitzten Leiber, die offenen Wadenbrüche und die gespalteten Schädel führten dazu, dass ich heute bei allem was ich tue EXTREM aufpasse. Gelegentlich werde ich als übervorsichtig wahrgenommen. OK, das bin ich irgendwie auch, denn wenn ich eine Leiter hochsteige sehe ich vor meinem geistigen Auge die offenen Beinbrüche und ausgekugelten Schultern aus der Nothelferkurs-Dia-Show. Fleischwunden, Quetschungen, Beinbrüche oder andere schmerzhafte Erfahrungen möchte ich mir ersparen. Bis heute mit Erfolg. Vielleicht verdanke ich das alles dieser abschreckenden Dia-Show, die mich mehrere Tage fasten lies.

Abschreckung galt lange Zeit als Instrument, Leute zu erziehen. Man zeigte uns Dinge, die wir nicht selbst erleben wollten, um uns vor Handlungen fern zu halten, die genau diese Dinge auf den Horror-Bildern zur Konsequenz haben konnten. Heute versucht man das noch immer, mit mässigem Erfolg. Man zeigt uns im Fernsehen und in allen anderen Medien Menschen, die auf Intensivstationen ihren atemlosen Kampf mit CORONA austragen. Abschreckend. Aber tatsächlich nicht für alle. Immer noch gibt es Menschen, die lieber sterbenskrank an der Lungenmaschine enden, als sich in eine Schlange zu stellen, an deren Ende ein Weisskittel einem eine Spritze in den Oberarm rammt.

Ich traf vor ein paar Tagen beim Spaziergang mit meinen „Möpsen“ (kleine Hunde…) auf einen Bekannten. Klar fiel das Thema auf CORONA. Klar sprachen wir irgendwann über die Impfung. Klar gab ich zu, geimpft und darüber froh zu sein. Oha. Dann ging’s los. Ob ich wahnsinnig wäre, ob mir bewusst sei, dass ich als Versuchskanninchen hergehalten hätte. Scherzhaft gab ich zurück, dass er sich doch darüber freuen solle, denn wenn er sich dann irgendwann impfen lässt, wäre diese ausgetestet und noch sicherer. Unterdessen würde ich viel erleben und mein Leben geniessen, während er, als Ungeimpfter, zu Hause eingesperrt würde, weil er an keinen Anlässen teilnehmen dürfe und vielleicht irgendwann nicht einmal mehr in ein Restaurant könne oder zum Einkaufen. Das war ein langer Satz. Als Reaktion darauf erhielt ich ein langes Gesicht meines Gegenübers und er konterte meinen langen Satz mit einem noch längeren. Eines muss man diesen Überzeugungs-Ungeimpften lassen. Sie verfügen über mehr Argumente gegen das Impfen als über Verstand. Irgendwann wurde es mir schlicht zu blöd und ich fragte: „Gurtest Du Dich an beim Autofahren?“ „Klar!“ gab er zurück und für einen kurzen Moment waren wir uns einig. Aber nur bis ich ausführte, dass es Fälle gab, bei denen Autofahrer im Fahrzeug ums Leben kamen WEIL sie angegurtet waren. Mit seiner Sichtweise müsse er doch nun auch finden, dass diese Gurten noch nicht ausgereift sind und er sich fortan nicht mehr angurten dürfe, bis diese absolute Sicherheit garantierten.

„Das kann man doch überhaupt nicht vergleichen“, gab er zurück und ich fügte bei „da hast Du recht, dieser Vergleich hinkt, so wie Deiner mit der Impfung.“ Beide Vergleiche gehen am Stock und müssen sich gegenseitig stützen, damit sie nicht umfallen und für immer liegen bleiben.

Nun wurde es ihm zu bunt und er verabschiedete sich hastig. Ich blieb mit meinen „Möpsen“ (immer noch zwei kleine Hunde…) zurück und versuchte zu begreifen, warum intelligente Menschen so vehement dagegen sind einzusehen, dass sie auch nur Menschen sind und alles, was andere erleben und durchmachen, auch erleben und durchmachen könnten.

Vermutlich liegt es daran, dass sie in den Nothelferkursen diese Horror-Verletzungen nicht mehr zeigen. Vielleicht lieg es auch daran, dass wir Menschen dank Internet, YouTube und allen anderen Plattformen schlicht überschockt sind. Filme und Bilder von Köpfungen, Autounfällen, Gemetzel und anderen Gräueltaten, die man im Internet findet haben uns alle abgestumpft. Das alles sind Dinge, die in diesem Kasten mit Bildschirm geschehen. Das betrifft uns doch nicht! Das ist reales Hollywood und nichts, was uns passieren könnte.

Ich ging weiter und traf auf meine Allerliebste. Sie hatte ihr Fahrrad dabei mit dem Hundeanhänger. Wie mit ihr abgemacht holte sie die Hunde ab, weil sie mit ihnen ins Grüne fahren wollte. „Pass auf, beim Abbiegen, da könnte der Anhänger am Strassenrand anschlagen und umkippen…“ Meine Allerliebste unterbrach mich mit ihrem allerliebsten Lächeln. Sie kennt mich schon lange und weiss von meiner Übervorsicht. Sie verstaute die beiden Hunde im Anhänger und fuhr los. In Gedanken drückte ich den drei die Daumen, dass unterwegs nichts Schlimmes geschehen würde deren Bilder es in die Nothelferkurs-Dia-Show schaffen würden. Ich wollte schliesslich meine „Möpse“ (diesmal zwei Hunde und zwei andere schöne Sachen…) am Abend wieder wohlbehalten in die Arme schliessen können.

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