Das Ringen um den Ring

Ich trinke keinen Alkohol. Alkohol finde ich widerlich und schon beim Gedanken daran, in ein „Kirschstängeli“ zu beissen wird mir übel. Alkohol meide ich wie bestimmte Leute im übervollen Bus die Dusche zu Hause. Alkohol kommt mir nicht durch die Speiseröhre. Ich mache da auch keine Ausnahmen. Nicht mal an Silvester, oder am Geburtstag meiner Allerliebsten. DIE AUSNAHME gibt es aber schon: das Münchner Oktoberfest.

Das Erlebte liegt schon ein paar Jahre zurück, da hatte meine Allerliebste die Idee München zu besuchen. Wir entdecken gerne deutsche Städte und München hatten wir bis dahin nie auf dem Radar. Klar musste die bayrische Metropole erkundet werden. Meine Allerliebste ist neben ihrer „Aufgabe“ als Vollzeitbetreuerin meiner Person auch noch Reiseleiterin und Organisatorin aller anfallenden Lebensherausforderungen. Sie suchte ein passendes Wochenende, ein angemessenes Hotel und die optimale Zugverbindung. Alles was ich dann noch zu tn hatte war: Dabeisein.

Schon beim Einfahren des Zuges im Bahnhof München stellten wir fest, dass meine Allerliebste kein „normales“ Datum ausgesucht hatte. Das Oktoberfest war im Gange, was an den vielen Menschen in Dirndeln und Lederhosen kaum zu ignorieren war. Das Gedränge auf dem Bahnsteig hatte sardinenbüchsenartige Ausmasse und wir, in normalen Klamotten, waren unter den trächtigen Damen, ich meine unter den trachtragenden Damen und den lederbehosten Mannsbildern etwa so exotisch wie die Türkei in einer demokratischen Europagemeinschaft. Vor lauter wippenden Dekoltees und muskelbepackten Waden konnte es einem fast schwindelig werden und wir waren froh, als uns die Menschenmasse endlich auf den Vorplatz des Bahnhofs ausspuckte. Die grosse Welle an bierseeligen Festnudeln strömte richtung Festgelände, wie Hühner und Gockel aus dem Tiertransporter in den Schlachthof.

Unser Taxifahrer schien ebenfalls vom grössten Volksfest Europas begeistert zu sein. Er trug Lederhose und Karohemd, aber sprach ein kaum verständliches Türkisch-Deutsch-Bayrisch-Englisch. Was bei uns aber hängen blieb waren: „Muss gesehen haben!“, „Sowas von geil!“ und „Wer da und nicht dort was verpasst!“ Kurz darauf lud er uns vor dem Hotel ab und blickte uns wehleidig an: „So aber nicht gehen an Fest, musse tragen wie ich, Hose-Leder und Frau Rock mit Busen!“ Wir bezahlten seine Dienstleistung und verschwanden im Hotel. In der Hotelahalle war das Oktoberfest ebenfalls Thema Nummer eins. Weiss-Blaue Fähnchen, Mitarbeiterinnen mit „Rock mit Busen“ und die Männer zeigten Waden. Die Rezeptionistin erklärte uns auch sogleich, dass rund um die Uhr jemand da sei und das Frühstücksbuffet statt um neun Uhr erst ab elf Uhr eröffnet werde. „Vorher hoabts eh koa Oppetit, wenn ihr oans Oktoberfest geht!“ Dass wir nicht geplant hätten dieses Fest zu besuchen, glaubte sie uns auch nach der fünften Wiederholung nicht und wir verschwanden auf dem Zimmer.

Wenig später standen wir bereits wieder draussen auf der Strasse und begannen unsere Münchner Stadttour. Egal wie weit entfernt, oder wie nah wir am Festgelände vorbei kamen, die ganze Stadt war voll mit nackten Waden und in Dirndeln verschnürten Busen. Bei manchen Damen erinnerte ihr Dekolte an zwei kahlrassierte Skinhaeds deren Köpfe aneinander gepresst wurden. Meine Allerliebste stellte irgendwann fest, dass Dirndltragen sehr vorteilhaft sei. Diese Dirndl schmeicheln der Figur. „Dir würden solche Lederhosen sicherlich auch gut stehen“. Kaum gesagt standen wir in einem Laden, der nur aus Lederhosen, Karohemnden und Busenschmeichlern bestand. Noch ehe ich mich umschauen konnte drückte mir meine Allerliebste eine tote Ziegenhaut und ein Trachtenhemd in die Hand. Sie schnappte sich eine Tracht und verschwand in der Umkleidekabine.

Als wir so „kostümiert“ vor dem grossen Spiegel standen und uns betrachteten wirkten meine Waden tatsächlich muskulöser und das Dekoltee meiner Allerliebsten hüpfte mir regelrecht entgegen. Irgendwie glaubten wir, in diesen Kleidern etwas attraktiver zu wirken. Was aber sicher war, wir fielen unter den anderen Lederhosen und Trachtenröcken nicht mehr auf. Was dann geschah, war eigentlich nur pure Logik. Wenn man schon nach Oktoberfest aussieht, dann muss man auch ans Oktoberfest. Die Wiesn zu finden war sehr einfach. Wir schlossen uns einer grösseren Gruppe an und standen kurz darauf vor dem Eingang zum Festgelände. Wir sind ja keine Hinterwäldler und kennen auch grosse Volksfeste, aber dieses Oktoberfest hat schon alle Dimensionen die wir so kannten übertroffen.

Auch als Abstinenzler war es unter den vielen angetrunkenen Menschen sehr angenehm. Das Tragen von Lederhose und Dirndl hat zu einem Gemeinschaftsgefühl verholfen, wie wir es bisher nur als aktive Fasnächtler an der Basler Fasnacht erlebten. Irgendwann hatten wir auch Glück und fanden zwei Plätze vor einem Bierzelt. Die Sonne schien, es war warm und wir hatten Durst. Meine Allerliebste bestelle sich einen Liter Bier und ich mir natürlich auch. Wer wäre schon auf die Idee gekommen, dass es am Oktoberfest auch alkoholfreies Bier oder andere Getränke gibt die keine berauschende Wirkung haben, aber der Anblick so vieler Menschen mit so vielen Bierkrügen in der Hand liess mir keine Wahl. Einmal daran nippen und dann ist OK, nahm ich mir vor. Mein Durst bekam von meinem Vorhaben aber irgendwie nichts mit und war schon ziemlich gross und mein erster Schluck auch. Ein Kamel würde dies vielleicht „nippen“ nennen, aber ich leerte den Krug beinahe in einem Zug. Die grossen Augen meiner Allerliebsten waren beinahe so gross wie die beiden rosigen Kugeln in ihrem Dkoltee, die bei jeder ihrer Bewegungen aus diesem raushüpfen wollten. Als Nicht-Trinker ist ein so grosser Schluck Bier nicht ohne Folgen wegzustecken. Umgehend zeigte der Alkohol seine Wirkung und ich hörte mich sogleich einen neuen Krug bestellen. Meine Allerliebste stiess einen Laut aus: „Ohjee…“, irgendwie ahnte sie, was in den nächsten Stunden geschehen würde. Von uns beiden war ich der Einzige, der ahnungslos blieb und ebenso ahnungslos in eine lange Nacht schlitterte.

Was ich noch weiss: Irgendwann lag ich im Bett und meine Allerliebste versuchte mir das Leder vn meinem verschwitzen Beinen zu streifen. Was ich dann wieder voll und ganz mitbekam war mein Brummschädel beim Aufwachen und dass mein Ehering am Finger fehlte. Panisch suchte ich danach auf dem Nachttisch, aber da war er nicht. Meine Allerliebste gab ihn mir in die Hand und erklärte mir, was ich in der Nacht zuvor „verpasst“ hatte.

Irgendwann nach dem vierten oder fünften Liter Bier, so erzählte sie mir, wollte ich auf die Toilette gehen. Sie habe mich da selbständig hinschwanken lassen, aber als ich nicht mehr auftauchte, ging sie mich dort suchen. Vor den Toiletten hatte sich eine lange Schlange gebildet und ich sei in der Toilette gestanden und habe die Leute jeweils zu den leeren „Häuschen“ begleitet und einen reibungslosen Ablauf organisiert. Dabei sei auch eine Gruppe Engländerinnen auf mich aufmerksam geworden. Obwohl ich kein Englisch kann, hätte ich lange mit diesen über Gott und die Welt gesprochen. Offenbar hatten diese auch schon einige Male am Bier „genippt“ und eine wollte mich sogleich heiraten. Ich willigte ein, kniete mich vor sie hin und streifte ihr meinen Ehering über den Finger. Die britische Delegation johlte und applaudierte und die wartenden Pinkler in der Schlange intornierten den Hochzeitsmarsch. Hochstimmung! Ausser bei meiner Allerliebsten. Die hätte darauf hin fast eine Stunde gebraucht, um meinen Ring wieder zurück zu bekommen. Meine aufgegabelte „Braut“ hätte eine Ablösesumme in Form von Bier mit meiner Allerliebsten verhandelt – die perfekt Englisch spricht – und die „Scheidung“ sei mit viel Gerstensaft, Bretzeln und Hähnderln besiegelt worden.

Es war bereits nach 16 Uhr, als ich mich in die Hotellobby wagte. Bis dahin bewegten sich die Wände des Hotels und nun schien es, dass es einen sicheren Stand aufweisen würde. Die Rezeptionistin sah mich an, lachte und meinte: „Ja! So schauts oaner aus, der nicht am Oktoberfest woar!“ An Frühstücken oder an eine andere Form der Nahrungsaufnahme, ob flüssig oder fest, war nicht zu denken. Die Hemreise im Zug verbrachte ich meist schlafend oder mit zugekniffenen Augen, denn jeglicher Lichteinfall war ein Mordversuch an meinen Augäpfeln. Meine Allerliebste schwärmte mir in meinen Wachphasen von diesem Oktoberfest vor. Wie einmalig es sei, wie wunderbar und einzigartig. Schade nur, dass ich da nicht mitreden konnte, denn meine lückenhaften Erinnerungen kreisten, im wahrsten Sinne des Wortes, im Raum umher.

Dieser Umstand musste korrigiert werden. Und seit unserem ersten Besuch in München sind wir Stammgäste auf der Wiesn. Die Grossbritanische Frauengruppe haben wir aber nie wieder angetroffen Ich bestelle übrigens seither immer einen Liter Bier; alkoholfrei. Tatsächlich ist das Oktoberfest ohne Schwipps noch viel Imposanter. Meinen Ehering ziehe ich aber jeweils vor den Besuchen aus und deponiere ihn im Hotelsafe. Man weiss ja nie, ob man wieder mal auf ein „richtiges“ Mass Biert trifft, das von mir geleert werden will.

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