Weil mein Grossvater der festen Überzeugung war, dass ich musikalisch sei, schenkte er mir irgendwann mal ein Akkordeon. Es war eines aus Plastik aus der Spielwarenabteilung. Ich war damals sechs Jahre alt, nahm das Ding in die Hand und – so sagt man sich in der Familie – spielte sogleich damit bekannte Melodien.
Mein Grossvater nannten wir „Dolce“ und tatsächlich war er „süss“, denn wenig später brachte er ein Akkordeon nach Hause. Ein richtiges. So besuchte ich dann die Musikschule und blieb diesem Instrument (bis heute) treu. Nach ein paar Jahren beherrschte ich diese „Quetschkommode“ recht ordentlich und die ersten Anfragen schneiten rein: „Könnten Sie an unserem Geburtstagsfest einwenig was spielen kommen?“ Da ich damlas nur das Wort JA als Antwort kannte und ein NEIN mir nur über die Lippen kam, wenn meine Eltern beim verspäteten Eintreffen nach dem Ausgang fragten ob ich Alkohol getrunken hätte, lag schon bald der erste Engagementvertrag auf dem Tisch. Genau genommen war es nur eine mündliche Abmachung per Telefon. Da ich damals, was die Lebensjahre und das Vereinbaren von verbindlichen Abmachungen betrifft, noch etwas unerfahren war, notierte ich mir lediglich das Datum, die Uhrzeit meines Eintreffens und die Art der Feierlichkeiten an denen ich aufspielen sollte; Geburtstagsfest.
Die Wochen vor meinem ersten Akkordeonauftritt verbrachte ich mit üben von bekannten Schlagern, Evergreens und sonstigen Stücken. Ich beschränkte mich dabei vor allem auf gut und einfach zu spielende Werke, denn die Gäste an der Feier waren ja nicht zu einem Akkordeonkonzert eingeladen worden. Das was ich da übte, taugte also bestens für den Hintergrund oder für die Berieselung von Fahrstühlen.
Dann kam der Tag X. Es war ein Samstag und ich sollte so gegen 15 Uhr eintreffen, da die Geburtstagsgesellschaft nach dem Essen im Hotel Rössli dann zum gemütlichen Teil übergehen würde. Ich betrat das Hotel, welches im Ort in dem ich Aufwuchs zum Besten der Besten zählte. Im Eingangsbereich angelangt hatte ich drei Möglichkeiten: Nach Rechts ins Restaurant, nach Links zum Saal oder nach Unten zur Kegelbahn. Aus dieser hörte ich Stimmen und lautes Lachen. Für mich war es eindeutig: Das Geburtstgasfest war im vollen Gange und sie hatten es offensichtlich sehr lustig. Ich stieg herab und öffnete die Türe zur Kegelbahn. Ungefähr 30 Personen hielten sich dort auf und alle blickten mich an: „Ich bin Renato und komme Akkordeon spielen. Ist hier das Geburtstagsfest?“ fragte ich – damals noch etwas verhalten und scheu. „Ja!“ lachte mich ein bärtiger Mann an und stellte mir einen Stuhl hin. Ich wuchtete das Akkordeon aus der Transportkiste und begann mein Repertoire zu spielen. Schon nach wenigen Stücken wurde getanzt und gesungen. Das Bier und der Wein floss in Strömen – für mich gab es Cola – und der Lärmpegel aus der Kegelbahn blieb auch anderen Gästen des Hotels nicht verborgen.
Ich war mit meinem zweistündigen Repertoire schon durch und begann wieder mit „La Paloma“ von Vorne, als es an der Türe klopfte. Während des Refrains beobachtete ich, wie der bärtige Mann mit jemandem am Eingang sprach und immer wieder zu mir rüber blickte. Schliesslich kam er zu mir und bat mich „La Paloma“ sein zu lassen. Verwundert brach ich ab und die Person an der Tür trat auf mich zu. „Sind Sie Renato Salvi?“, fragte sie mich und ich gab meine Standartantwort bei Fragen: JA. „Ich bin die, welche Sie engagiert hat fürs Geburtstagsfest, das aber oben im Saal stattfindet!“
Es war eine Mischung aus einem tiefen Schock mit einer grossen Prise Scham, einem kleinen Schuss Wut mit einem Hauch Trauer. Wut auf den Bärtigen Mann der so tat, als ob ich am richtigen Ort war. Natürlich auch Wut auf mich selber, dass mir so ein Missgeschick überhaupt geschehen konnte. Die Trauer kam dann später dazu, als ich dann an der richtigen Feier sass und Akkordeon spielte. Die Leute waren träge, müde und etwas desinteressiert. Dieser Auftritt fühlte sich fast so wie ein Konzert an, denn die Gebursttagsgäste sassen alle nur herum und hörten mir zu. Nach den Stücken klatschte vielleicht mal einer und aus der Kegelbahn unten war Gelächter und beste Stimmung zu vernehmen.
Irgendwann war dann Schluss und die Dame, dich mich telefonisch engagierte kam mit einem Couvert auf mich zu. „Hier ihre Gage“, sagte sie und ich antwortete untypisch für mich mit einem wehementen „NEIN!“
Sie fand meine Reaktion offenbar sehr anständig und bedankte sich bei mir überschwenglich. Ich packte zusammen und eilte nach Unten in die Kegelbahn. Dort wurde ich wie Freddy Quinn, der eben aus dem Grab entstiegen war gefeiert. „La Paloma“ war der Gassenhauer des Abends. Ich weiss nicht wie oft ich es spielen musste. Es war einfach grossartig, diese Feier. Keine Ahnung wer die Leute waren, was sie feierten oder warum sie sich dort trafen. Der Abend in der Kegelbahn dauerte noch bis in die frühen Morgenstunden. Hätten mich damals meine Eltern beim Nachhausekommen gefragt: „Hast Du Alkohol getrunken?“ ich wäre nicht mehr im Stande gewesen irgendetwas zu antworten.
Kommentar verfassen