Der Mann der nie grüsst

Schon mal vorweg: Einen Gruss nicht zu erwiedern empfinde ich als beleidigend. Egal ob die Person, die ich grüsse meiner Sprache mächtig ist oder nicht. Jeder kann sich vorstellen, was ein Passant, der an einem vorbei geht, in etwa sagt, wenn er einen Laut von sich gibt. Er wird wohl kaum nach dem Weg fragen, oder eine längere Auskunft erwarten wenn er „Hello“, „Hi“, „Bon giorno“ oder was auf Chinesisch sagt.Und auf mein „Guten Tag“ einfach nichts zu sagen macht mich vor allem bei Menschen wütend, die ich jeden Tag sehe.

Da gibt es diesen Schulhausabwart. Ich werde mich hüten, die Schule zu benennen, aber ich treffe diesen Mann eigentlich täglich. Seit nun fünf Jahren sage ich jedes mal „Grietzi“, wenn wir uns auf der Strasse kreuzen. Seit fünf Jahren bleibt er stumm. Zuerst dachte ich, dass er vielleicht nichts hört und dann dachte ich, dass er womöglich nicht sprechen kann. Irgendwann traf ich ihn aber beim Schwatz mit jemand anderem.

Das motivierte mich noch mehr und ich grüsse ihn seitdem noch offensiver: „GRIETZI“. Meist etwas zu laut, überbetont und seit gut zwei Jahren mit einem leicht aggressiven Unterton. Kein Erfolg. Mein Ärger ist seit einigen Wochen einer Bewunderung für diesen Mann gewichen. Er scheint ja durchaus eine Linie zu haben, wenn er meinem Gegrüsse derart standhaft widerstehen kann. Er zieht es durch. Ich aber auch!

An Tagen, an denen ich den Schulhausabwart nicht sehe, da fehlt mir richtig was. Da bin ich unausgeglichen und beobachte mich, wie ich die Blicke fremder Passanten suche um ihnen mein „GRIETZI“ um die Ohren zu hauen. Die sagen darauf auch meist nichts, aber das macht mit denen keinen Spass. Ich brauche diesen sozialunkompetenten Blindgänger von Schulhausabwart damit mein Tag ein guter Tag ist. Er motiviert mich täglich, dass ich nicht irgendwann auch derart abgelöscht und menschenfeindlich werde, wie er.

Nun sind Sommerferien. Ich frage mich, was dieser Schulhausabwart in diesen sechs Wochen tut. Geht der auf eine Städtereise, läuft durch die Strassen und grüsst jeden, der ihm entgegen kommt? Denn irgendwann muss doch jeder Mensch mal etwas tun, was er sonst nie tut. Falsch gedacht. Er hat keine Ferien. Ich sah ihn heute. Er kam mir entgegen und noch bevor ich was sagen konnte sagte er: „Hallo“. Völlig geschockt brachte ich kein Wort über die Lippen und blieb stumm.

Nun habe ich mir vorgenommen, dass ich beim nächsten Treffen nichts sage und wenn er dann wieder grüsst, dann tauschen wir die Rollen für die nächsten fünf Jahre.


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